21.03.2010, 16:03 Uhr | Holger Hemke

Anatomie einer Musikbetonung

Das Online Lexikon Wikipedia erklärt zum Begriff Anatomie "…die Lehre vom Aufbau der Organismen. Es werden Gestalt, Lage und Struktur von Körperteilen, Organen, Gewebe oder Zellen betrachtet….". Warum ist mir dies so wichtig?  Was hat all dies mit Musikbetonung zu tun?

Es herrscht viel Aufregung im Moment um die Entwicklung der Musikbetonung an der Musikbetonten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe "Paul Dessau".  Vieles wird gesagt, behauptet, widerlegt, bestätigt, verworfen … es wird über Personalien gesprochen und über politischen Missbrauch. In der Tat habe ich das Gefühl, dass hier vieles missbraucht wird.  Vor allem aber die Chance, ein Modell zu erhalten, das einzigartig ist.
Ich habe mich gefragt, wieso in dieser Auseinandersetzung die Demagogen hier offensichtlich so leichtes Spiel haben, wieso es immer wieder gelingt Verwirrung zu Stiften - zu welchem Zweck auch immer. Die Erklärung dafür liegt offensichtlich in der Sache selbst und wohl auch darin, dass ich um viele Zusammenhänge und Wirkprinzipien weiß und gemäß dem Prinzip der impliziten Annahme davon ausgehe, dass alle Menschen, die mit diesem Thema in Berührung kommen - ebenso im Bilde sind. Aber genau da liegt der Fehler - ein fataler Fehler. Aus diesem Grund möchte ich versuchen eine Anatomie der bisherigen Musikausbildung an der Paula zu skizzieren - um vielleicht zur Aufklärung darum ein wenig beizutragen.

 Die Musikausbildung an der Paula ist bisher in der Form eines Wahlpflichtfaches in der Sekundarstufe I über vier Jahre von der Klassenstufe 7 bis 10 organisiert. Das Thema der Ausbildung ist neben einer großen Vielfalt der Stile und Epochen vorrangig die klassische Musik  Kein leichter Stoff - und das ist bewusst so gewählt. In den Fachbereichen Musiktheorie, Gehörbildung, Instrumentalausbildung und Chor erlangen die Schüler systematisch über vier Jahre ein umfassendes Wissen und die Befähigung am Ende ihrer schulischen Laufbahn ein Studium der Musik oder mit musikalischen Bereichen anzutreten. Alle Bestandteile der Ausbildung sind obligatorisch - nichts kann abgewählt werden, nirgendwo kann sich ein Schüler, der diese Ausbildung durchläuft Erleichterung verschaffen.

Was für eine Quälerei? Dennoch ist diese Ausbildungsform nachgefragt wie nie. Offensichtlich gibt es viele Eltern, die wichtige Prinzipien bei der Erziehung Heranwachsender durchdrungen haben. Die Schüler durchlaufen während dieser Zeit nicht nur die Musikausbildung, sie durchleben gleichzeitig in vollem Umfang ihre Pubertät. Psychologen beschreiben diese Phase auch oft als die "Gewitter im Kopf". Die jungen Menschen haben alle bis dahin erlernten Normen und Prinzipien über Bord geworfen und bestimmen ihre Welt und deren Werte völlig neu. Sie tun dies in dem sie die umgebende Welt abtasten - durch Fragen, durch Konfrontation auch durch Provokation. Es ist essentiell wichtig für sie während dieser Zeit Menschen zu begegnen, die Antworten bereithalten, die ihnen feste Formen und Regeln auferlegen in deren Rahmen die Neuorientierung gelingen kann. Die Schüler verspüren selten Spaß dabei - wohl aber Freude, denn diese steht mit dem Erfolg am Ende ihrer Mühen. Wieder und wieder. Sie entwickeln sich zu Persönlichkeiten. Dass diejenigen Lehrer und Ausbilder, die das "Abtasten" der Schüler über sich ergehen lassen, die diesen nicht immer sensibel vorgetragenen Erkundungen immer wieder - nicht nur widerstehen sondern diese auch noch bewusst mitgestalten, dass diese - weit mehr tun als in ihrem Funktionsplan beschrieben steht, gereicht ihnen zur Ehre. Ein derartiges System, bestehend aus den Lehrern, Koordinatoren und vielen ehrenamtlich wirkenden Menschen ist immens sensibel. Um es zu zerschlagen braucht es manchmal nur eine Dissonanz, um es aufzubauen viele Jahre voller Mühe und Aufopferung.

Wenn man um diese Zusammenhänge weiß dann wird schnell klar, welche gravierenden Auswirkungen die nun geplanten "kleinen" Änderungen haben würden. Das Gesamtkonzept soll zu Gunsten einer Organisation in Arbeitsgemeinschaften, die jeweils für maximal ein halbes Jahr verbindlich sein sollen aufgegeben werden. Der Zusammenhang der Teile der Musikausbildung als Ganzes wird nicht mehr verpflichtend definiert. Anspruch und Niveau werden "gelockert" - die Zuwendung zur Spaßgesellschaft wird erklärt. Mit der Erschließung dieser Seichtgebiete wird es kaum mehr gelingen die jungen Menschen zu Persönlichkeiten zu entwickeln - allenfalls zu Konsumenten.

Traurig, aber nicht ohne Hoffnung,

Holger Hemke.